Lichtenrade 1903: Wir hatten das Kaiserreich, Deutschland stand auf der Höhe seiner Macht. Die Milliarden, die nach dem Krieg von 1870/71 aus Frankreich nach Deutschland flossen, die Proklamierung des Kaiserreichs und die Ausrufung Berlins zur Reichshauptstadt brachten einen gewaltigen Aufschwung. Berlin zog die Menschen aus Schlesien, Pommern, Ostpreußen und Westpreußen sowie aus der Mark Brandenburg und Sachsen wie ein Magnet an. Häuser schossen wie Pilze aus der Erde, jene Häuser mit zwei und drei Hinterhöfen, Quergebäuden und Seitenflügeln. Baugesellschaften wurden gegründet und machten Pleite; die Spekulation blühte. Die Menschen, die vom Land herkamen, zogen nun in diese Baublöcke. Sie waren gewöhnt an Feld und Flur, an Wald und Wiese und an überschaubare Verhältnisse. Hier sahen sie allenfalls einige Quadratmeter Himmel und graue Mauern. Sie verdienten hier gut, hatten Chancen, es zum Wohlstand zu bringen, haben Firmen gegründet, die später Weltruf erlangten. Aber die Sehnsucht nach freiem Blick, nach Luft, Feld und Wald blieb. Sie wollten ein Plätzchen, das ihnen gehörte, wo sie ein paar Bäumchen pflanzen und ihre Erdbeeren selbst ziehen konnten. So wurde die Sehnsucht nach dem eigenen Stückchen Land immer stärker. Zu erst vielleicht eine kleine Laube, später ein kleines Häuschen. Das konnte nur außerhalb Berlins geschehen, hier war der Boden noch billig. So musste und wollte man auch weit hinaus, um in der freien Natur zu sein. Unbequemlichkeiten, oft kilometerlange Wege, wurden in Kauf genommen.
So kamen um die Jahrhundertwende die ersten Siedler, man nannte sie geringschätzig "Laubenpieper". Nicht nur in Lichtenrade, sondern auch im Norden, Osten und Westen fanden sich Siedler ein. Lichtenrade war damals ein Dorf im Kreis Teltow mit ca. 900 Einwohnern, weit abgelegen, verkehrsmäßig nicht erschlossen. Mit der Dorfaue, dem Teich, den weiten Feldern ein idealer Platz für die Menschen, die vom Lande gekommen waren.
Keine Straßenbahn fuhr, kein Bus; nur ein Dampfzug fuhr alle Stunde vom Potsdamer Ringbahnhof, und der hielt auch nur in Lichtenrade, wenn jemand sichtbar an dem Haltepunkt stand oder vorher dem Zugführer gesagt hatte, dass er in Lichtenrade aussteigen wollte. Später fuhr dann eine Straßenbahn nach Mariendorf, von dort musste man laufen. Erst am 15. Mai 1939 wurde der elektrische Betrieb Berlin - Potsdamer Ringbahnhof - Lichtenrade - Mahlow aufgenommen.
Hermann Wundrich, ehemals Vorsitzender und später Ehrenmitglied des Vereins, schreibt darüber sehr anschaulich in seinen Erinnerungen:
"Ich erwarb mir 1907 in Lichtenrade ein Grundstück, und das kam so. Eines Tages sagte ein Freund, er hätte sich in Lichtenrade ein Grundstück gekauft. Nach Rede und Gegenrede, wo denn das Lichtenrade überhaupt ist, gab der neue Grundstücksbesitzer die nötige Auskunft. Wenn er seine Laube fertig habe, würde er die Klubmitglieder nach Lichtenrade einladen. Nach einiger Zeit war es dann soweit. Bei schönstem Sonntagswetter fuhren wir, 27 Damen und Herren, mit der Straßenbahn 73 gen Lichtenrade. Die Endhaltestelle der 73 war etwas vor der jetzigen Rennbahn. Dann kam der Spaziergang auf der staubigen Chaussee, die noch nicht gepflastert war. Der neue Grundbesitzer hatte uns vorher die Lage des Grundstücks beschrieben. Der Weg auf der Chaussee ging bis zum Kilometerstein 13,2, der an der heutigen Goethestraße erreicht wurde. Hier rechter Hand in einen Feldweg einzubiegen hieß es. Nach etwa 200 m Feldweg kam linker Hand ein Roggenfeld, durch das ebenfalls linker Hand ein Trampelpfad führte. Der Trampelpfad führte dann weiter über einen großen Kartoffelschlag bis etwa zur heutigen Geibelstraße in der Höhe der Fontanestraße. Man sollte sich aber nicht von den Bauern erwischen lassen, sonst gäbe es Unannehmlichkeiten. Hier fanden wir auch das Grundstück unseres Freundes. Die Hausfrau hatte sich schon vorher bereit erklärt, das Kaffeewasser aus der neuen, gerade fertig gewordenen Pumpe zu kochen. Wer aber seinen mitgebrachten Kaffee aus einer Tasse trinken möchte, müsse sich dazu alles mitbringen, ebenso Gebäck, Abendbrot usw. Zum Abendbrot spendierte der neue Grundbesitzer einen Kasten Bier. Vom Zimmerermeister Sachs ließ sich der neue Grundbesitzer zu diesem Tage einen runden Tisch anfertigen, 3,12 m im Durchmesser. Da es keine Sitzgelegenheit gab, standen wir alle um den Tisch herum und verzehrten unseren Imbiß. Nach der Kaffeepause lud uns der neue Grundbesitzer zu einem Spaziergang durch die neu entstehende Kolonie ein. Plötzlich blieb er stehen, klopfte mir auf die Schulter und sagte: Herr Wundrich, das wäre hier ein Grundstück für Sie. Ich winkte ab, da wir, meine Freundin und ich, gerade beim Überlegen waren, ob wir uns ein Ruderboot oder ein Segelboot anschaffen möchten. Der Rückweg nach Berlin war derselbe wie der Hinweg und verlief bei Gesang und Plauderei an diesem schönen Sommerabend wunderbar. Abends nach 11 Uhr brachte ich meine Freundin nach Hause. Ihre Eltern, die ein Restaurant am Heinrichsplatz hatten, waren um ihre Tochter schon in großer Sorge. Ich konnte aber die Eltern , die ich hierbei erstmalig kennenlernte, beruhigen. Es sei doch der Weg nach und von Lichtenrade sehr weit gewesen. Es sei aber bestimmt nichts passiert."
Als Hermann Wundrich 1907 sein Grundstück kaufte, bestanden einige Lichtenrader Grundbesitzer-Vereine. Ihre Gründung war nötig, um wirksam die Interessen der Siedler zu vertreten. Die jungen Grundbesitzer hatten viele gemeinsame Interessen, die durchzusetzen besser möglich war, wenn man gemeinsam handelte. Viele Sorgen und Probleme gab es da. Die Bauern, die einem Land verkauften, aber mit Knütten aufpassten, dass man die abkürzenden Wege durch die Felder nicht benutzte, die Sorge um Wasser, um Licht, neue Wege, in denen man bei Regen nicht im Dreck versank, später um Schulen usw.
Mit dem Erwerb von Grund und Boden durch viele Berliner setzte bald eine rege Bautätigkeit ein. Schon 1904 konnten mehrere Neubauwohnungen in Lichtenrade bezogen werden. Man muss noch heute den Mut der Grundbesitzer bewundern, Wohnhäuser inmitten der Feldmark zu erbauen, ohne feste Straßen, ohne Wasser- und Gaszuleitung, ohne Kanalisation und ohne elektrischen Strom. So entstand zuerst das Bahnhofsviertel westlich der Eisenbahn. Die Mälzerei der Schloßbrauerei Schöneberg an der Steinstraße war 1903 bereits in Betrieb. Der Ausschank des Schloßbräu erfolgte in einer neuen Gaststätte (ehemals "Haus Buhr"). Auch das Diakonissen-Mutterhaus "Salem" wurde in dieser Zeit an der Hohenzollern-/Ecke Rohrbachstraße gebaut. Von 1905 an setzte eine ungeahnte Entwicklung von Lichtenrade ein. Die Bewohner des Berliner Südwestens und Südens kamen des Sonntags mit Kind und Kegel nach Lichtenrade und picknickten zur Erholung in der Nachtbucht, dem Nachtlager der Viehherden. Die Nachtbucht war damals mit dichtem Ginstergebüsch bewachsen, also noch nicht das heutige, unterholzfreie und durch Wege erschlossene Erholungsgebiet. Nahe der Nachtbucht wurde dann später das Komponistenviertel mit Mozart -, Beethoven -, Straußstraße usw. angelegt. Von 1905 an verkauften die Lichtenrader Bauern große Teile ihres Ackerlandes im heutigen Dichterviertel oder auch West-Kolonie genannt, weil dieses Gebiet westlich des Lichtenrader Damms liegt. Goethe-, Schiller-, Geibel-, Raabestraße usw. erinnern daran. Östlich des Lichtenrader Damms entstand das Märkische Viertel mit Potsdamer, Soldiner, Schwedter Straße. Im Taunusviertel gab es bald danach die Wiesbadener, Homburg-, und Krontalstraße. Östlich des alten Dorfes haben die letzten Lehngutsbesitzer Bornhagen und Bohnstedt ein Denkmal bei der Straßenbenennung erhalten. Östlich des Kirchhainer Damms entstand das Bayerische Viertel mit Würzburger, Regensburger, Bamberger, Nürnberger Straße usw. Westlich des Kirchhainer Damms finden wir das Feldherrenviertel mit Moltke-, Roon-, Falckensteinstraße. Im Flüsseviertel nahe der heutigen Steinstraße gibt es die Nuthe-, Rhin- und Dossestraße. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Siedlung mit den Wegen Franziusweg, Grenzweg, Abendrotweg gebaut. Der Gemeinnützige Verein Heimatland erwarb 1931 ein Gelände zwischen Kettinger Straße und der Eisenbahn und parzellierte es. Die bekanntesten Namen auf diesem Gelände sind die Eisnerstraße, der Scheerbartweg und der Dörfelweg.
In Lichtenrade entstanden folgende Vereine: 1903 wurde der Haus- und Grundbesitzer-Verein Lichtenrade 03 e.V. gegründet - der erste Verein dieses Namens, der durch die spätere Vereinigung des Vereins zum Gründungsverband wurde. Erster Vorsitzender war Rechnungsrat Rohrbach aus Wilmersdorf. Die Rohrbachstraße trägt seinen Namen. Diesem Mann verdankt Lichtenrade sehr viel. Durch seine Tatkraft und Initiative, unterstützt von seinen Kollegen im Vorstand, erreichte er in zähen Verhandlungen und vielen Schriftsätzen, dass die Pflasterung der Hilbert-, Krüger-, Paetsch-, Richter-, Rangsdorfer, Hohenzollern-, Prinzessinnen- und Bahnhofstraße (1906/07) sowie einzelner Straßenzüge des Feldherrenviertels durchgeführt wurde. Auch der Bau von Gas-, Wasser-, Elektrizität- und Telefonleitungen sowie der Ausbau der Schulen und der Neubau des Bahnhofs Lichtenrade (1909) ist auf seine Tätigkeit zurück zu führen. Bis zum Ende des 2. Weltkrieges hatte Hermann Wundrich den Vorsitz inne. Versammlungslokal des Vereins war das Waldrestaurant in der Hilbertstraße. Es wurde im Krieg zerstört. Durch die Parzellierung des Westgeländes wurde von den dortigen Siedlern am 9. September 1906 der Haus- und Grundbesitzer-Verein Lichtenrade-West e.V. am Versammlungsort "Ausschank Pucherts Ruh" in der Lessingstraße gegründet. Im Jahre 1912 wurde das Restaurant Wilhelm Bohm, Krusauer (Kant-) Ecke Lessingstraße, als Versammlungslokal gewählt. Das Lokal besteht noch heute. Durch seine starke Mitgliederzahl konnte der Verein erreichen, dass die gesamte Westkolonie (Dichterviertel) gepflastert wurde und Wasser-, Licht- und Kanalisationsanschlüsse erhielt. Der West-Verein hat auch dazu beigetragen, dass anfangs die Kolonie durch privaten Omnibusverkehr bis zur Rennbahn Mariendorf mit der Innenstadt verbunden werden konnte und 1928 die erste Straßenbahn fuhr. 1908 wurde der Haus- und Grundbesitzer-Verein Lichtenrade-Ost e. V. unter Vorsitz von Wilhelm Ahr gegründet. Versammlungslokal war das Restaurant "Der Lindenhof". Sein Bereich lag im Märkischen, Taunus - und Bauernviertel. Ein Verein, der sehr aktiv war, von dem Unterlagen aber leider nicht mehr existieren. Ebenfalls 1908 entstand im südöstlichen Teil der Eigenheim- und Grundbesitzer-Verein "Bayerisches Viertel" e.V. unter Vorsitz der Herren Otto Schalldach, Ing. Alfred Richter und Marineoffizier Jansen. Wenn auch, wie in der Ostkolonie, der Straßenbau teilweise etwas stockte, entstand auch hier eine blühende Gartenkolonie. Als Versammlungslokale sind zu nennen: Restaurant Kühne in der Nürnberger Straße und Gasthof "Zur Linde", Kirchhainer Damm. Das Restaurant Kühne besteht nicht mehr. Hier machte der Verein seine Ernteausstellung. Letzter Vorsitzender des Vereins war Ing. Hans Ribbach. 1919 entstand der Haus- und Grundbesitzer-Verein Lichtenrade, der nichts mit dem 1903 gegründeten Verein gleichen Namens zu tun hatte. Der 6. Februar 1919 ist sein Gründungsdatum. Außer einer Satzung vorn 21. April 1934 sind keine Unterlagen vorhanden. Vorsitzender war 1934 A. Richter. Der Verein gehörte dem Bund der Berliner Haus- und Grundbesitzervereine e.V. an. Sämtliche Bekanntmachungen des Vereins erfolgten in der Zeitschrift "Das Grundeigentum". Der Verein soll im wesentlichen die größeren Mietshäuser in Lichtenrade betreut haben. Verein der Eigentumsbesitzer Berlin-Lichtenrade e. V. (vormals Siedlung St. Elisabeth): Anfang der dreißiger Jahre ließ Monsignore Theodor Grabe das durch eine Grundstückstransaktion erworbene Ackerland zwischen Griembergweg, Zeißpfad, Reichnerweg und Bernauer Straße parzellieren, um von dem Erlös das Lichtenrader Christophorus-Kinderkrankenhaus aufzubauen. Zu den ersten Ansiedlern dort, die sich alsbald zu einem Siedlerverein "St. Elisabeth" zusammenschlossen, gehörte auch (der spätere Stadtrat) Alwin C. Hardtke, der den ersten Vorsitz übernahm. Später führte Otto Draeger bis zu seiner Einberufung zur Wehrmacht den Verein. Schließlich übernahm Hans Drescher die Leitung des Vereins bis zum Kriegsende. Gemeinschaft der Grundbesitzer an der Buckower Chaussee e.V. : Über diesen Verein liegen keine Unterlagen vor. 1947 war Herr Niettert Vorsitzender des Vereins. Straßenbaukasse der Siedlung an der Goethestraße in Berlin-Lichtenrade e. V.: Das genaue Gründungsdatum ist nicht ermittelt. Es ist ein Protokollbuch vorhanden, das am 7. November 1933 beginnt und am 24. Dezember 1943 endet. Vorstandsmitglieder waren 1933 die Herren R. Paasch, W. Heese, K. Neumann und E. Sewald. Am 6. Januar 1934 wurde der Verein ins Vereinsregister eingetragen. Dieser Verein beschäftigte sich hauptsächlich mit dem Straßenbau im Vereinsbereich. In allen diesen Vereinen hat es tüchtige Männer und Frauen gegeben, die sich für den Verein und ihre Mitglieder einsetzten und durch ihre Kraft und Initiative entscheidend auch zur Entwicklung von Lichtenrade beitrugen. Da ging es um Schulen, Verkehrsverbindungen, um Straßen und Plätze, um Beleuchtung, um Wasser und Kanalisation und um Behebung der Wassernot. Nach den großen Regenfällen 1926/1927 versank Lichtenrade buchstäblich im Wasser. Das Wasser stand noch nach Wochen über einen halben Meter hoch; in den Gärten fielen die jungen Obstbäume um, man konnte nur auf ausgelegten Brettern in den Garten gelangen. Mit aller Macht setzten sich die Vereine beim Magistrat ein, damit Abhilfe geschaffen wurde, was nur durch den Bau eines Kanals geschehen konnte, der das Oberflächenwasser in den Teltowkanal leitete. In enger Zusammenarbeit mit dem Magistrat gelang es den Vereinen, das Projekt - das immerhin 5,5 Millionen Reichsmark kostete - durchzusetzen. Ende 1929 war dann der Kanal fertiggestellt. Er hatte die Bezeichnung "Lichtenrader-Lankwitzer-Regenwasser-Sammelkanal" - kurz "Lilaresa" genannt. Die Lichtenrader waren damit von der größten Wassernot befreit. Ein besonderes Anliegen war auch die Verbesserung der Verkehrsverhältnisse nach der Stadt. Die Straßenbahn 73 fuhr doch nur bis zur heutigen Rennbahn Mariendorf. Es gelang schließlich, eine Straßenbahn nach Lichtenrade zu bekommen. Dazu waren erhebliche Vorarbeiten notwendig. Es musste eine neue Trasse bzw. Straße gebaut werden, denn man wollte die alte Dorfstraße - heute Alt - Lichtenrade - umgehen. So entstand der heutige Lichtenrader Damm. Die Linie hatte die Nr. 99. Sie fuhr vom Bahnhof Lichtenrade bis zur Seestraße. Die Streckenlänge betrug 24,2 km, die Fahrzeit 87 Minuten. Später kam noch die Linie 25 hinzu, die sogar bis Tegel fuhr.
Grundeigentümerverein Berlin-Lichtenrade e.V.
Rehagener Str. 34
12307 Berlin Lichtenrade
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